Gliederung , Inhalt , Einzelinterpretationen 

Beim Lesen des Gedichts läßt sich leicht eine Gliederung in drei Abschnitte erkennen, ohne daß schroffe Übergänge vorhanden wären. In jedem der drei Abschnitte herrscht ein durchgeprägtes Bild vor :  
  
„Im ersten Teil ist es das verwirrende Blumengewühl, das mit sparsamen Zügen in seinen wechselnden Formen darge-stellt wird. Im zweiten Teil  ist es die voll entfaltete, der Befruchtung harrende Blume, und im dritten, mit den zärtesten Linien angedeutet, das menschliche Paar, das sich in harmonischem Anschaun verbindet." (*2)  
  
Alle drei Abschnitte des Gedichts sind in ihrer Aufeinanderfolge wie in ihrer Gesamtbewegung vom Gesetz der Steigerung bestimmt.  

„Gliederung ohne Steigerung gibt uns kein Interesse, wir landen da wo uns am meisten    zugesagt ist:  gesteigerte Gliederung, suc-cessive gegliederte Steigerung,  dadurch  Möglichkeit einer Schlußbildung, wo denn abermals das Viele vom Vielen sich sondert,  aus dem Einen das Viele hervortritt." 
       aus:    Goethe,   „Verfolg"   seiner morpholo-gischen Studien.  

Der erste Abschnitt besteht aus fünf Distichen. Die Verse 1 - 4 verbinden in der Anrede an die Geliebte das Mädchen mit der Gegenwart der Blumen im Garten. Hier wird die Ver-wirrung der Geliebten beim Anblick einer unüberschaubaren Vielfalt von Blüten spürbar. Der bloße Lehrton wird dadurch in die Sphäre des Gemüts versetzt, daß der Lehrer der Lie-bende,  die Zuhörerin die Geliebte ist.  
Führt schon das bloße Anschaun dieses überquellenden Reichtums zur völligen Verwirrung, so wird das Chaos der sinn-lichen Wahrnehmungen noch gesteigert durch die unterschiedlichen Pflanzennamen (2. Distichon), die mit „barbarischem Klang" einer den anderen im Ohr verdrängen. Die Vermutung liegt nahe, daß Goethe hier auf die Trivialnamen der ein-zelnen Pflanzen anspielt, während er die von Linné eingeführte binäre Nomenklatur, die sich aus lateinischen und griechischen Vokabeln zusammensetzt, an anderer Stelle als sinnvoll hervorhebt und sie in seinen Prosaabhandlungen auch selbst verwendet.  
 

Im dritten Distichon, wo es heißt  „Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der anderen" ,  wird bereits auf eine morphologische Verwandtschaft hingewiesen, und im vierten wird der inständige Wunsch ausgesprochen , Aufklärung über das Geheimnis dieses „Blumengewühls" zu geben .  
Die Worte „ein geheimes Gesetz" und „ein heiliges Rätsel" weisen bedeutsam und verheißungsvoll auf das Folgende hin .  
  
Der mittlere Teil der Elegie (Vers 11 - 62) enthält die dichterische Gestaltung der Pflanzenmetamorphose, wie Goethe sie gesehen hat .  
Der Dichter läßt anschaulich vor dem Auge des Lesers eine einjährige Blütenpflanze sich entfalten. Der Entwicklungsprozess beginnt mit der Quellung und Keimung des Samens und wird stufenweise fortgeführt bis zur Blütenbildung an der ausgewachsenen Pflanze . Die Natur schließt den „Ring der ewigen Kräfte" , indem sie durch die Bildung neuen Samens die Voraussetzung dafür schafft, daß sich dieser Kreislauf ewig fortsetzt .  
Den besten Kommentar zu seiner Dichtung gibt Goethe selbst in seiner Prosaabhandlung über die Metamorphose der Pflanzen. Sie stimmt inhaltlich mit dem mittleren Teil weitgehend überein.  
Die ersten fünf Distichen (Vers 11 - 20) entsprechen dem Kapitel I  „Von den Samenblättern". Der Abschnitt in der Entwicklung der Pflanze, der hier wiedergegeben wird, reicht von der Samenruhe über die Keirnung bis zu dem Augenblick, wo der Keimling die Erdoberfläche durchbricht und sich dem Licht entgegenstreckt.  
 
 „Aus dem Samen entwickelt sich, sobald ihn der Erde  
 Stille befruchtender Schoß hold ins Leben entläßt,  
 Und dem Reize des Lichts, des heiligen,ewig bewegten,  
 Gleich den zärtesten Bau keimender Blätter empfiehlt." 

Sämtliche Fachausdrücke wie  „Kotyledonen" ,  „Samenklappen" ,   „Kernstücke" ,  „Samenlappen" , „Samenblätter" und damit die Versuche einer begrifflichen Bestimmung oder Umschreibung finden in der Elegie keinen Platz. Sie hätten weder mit dem distichen Versmaß harmoniert, noch wären sie durch ihre nüchterne Sachlichkeit der hier geschaffenen Stimmung dienlich gewesen .  
  
Der Leser spürt die Ruhe und die Geborgenheit, die den pflanzlichen Embryo innerhalb des schützenden Samens unter der Erde umgibt. In diesem Zustand latenten Lebens trägt der Keim bereits die volle Befähigung sich, die er braucht, um zu einer vollständigen Pflanze heranzuwachsen.  

 „Einfach schlief in dem Samen die Kraft, ein beginnendes Vorbild 
 Lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt,  
 Blatt und Wurzel und Keim, nur halb  geformt und farblos; 
 Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt /.../." 
 

 
 Die Abb.1 zeigt den Samen von Ricinus communis. 
Der von Testa und Endosperm umgebene Embryo  besteht aus den Keimblättern 
(hier eine Dikotyle, daher zweimal vorhanden, dem Hypokotyl und der  Radicula. 
 

Da W. Flemming erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Chromosomen als Träger der genetischen Information entdeckte, wußte Goethe noch nichts von deren physiologischen Steuer  
funktionen. Um so erstaunlicher ist es, daß in der Elegie mit den Worten „Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes Vorbild" ein Hinweis auf etwas (zu der Zeit Unbekanmtes) gegeben wird, das die Ursache für alle Wachstumvorgänge und auch für das spätere Aussehen der Pflanze ist.  
Die Begriffe „Kraft" und „Vorbild" müssen daher unmittel-bar mit dem Wort „Gen" gleichgesetzt werden.  
An dieser Stelle wird deutlich, daß Goethes naturwissenschaftliche Studien durchaus auch mechanistisch-kausale Merkmale tragen.  
 

Der nächste Schritt in der Keimungsphase ist nach der Samenruhe die Quellung. Durch hineinperme-  ierende Feuchtigkeit beginnt der Samen zu quellen und der Keim zu wachsen. Die Phase endet damit, daß der Keimling die Erdoberfläche durch-bricht und beginnt, dem Licht entgegenzuwachsen.  

 
Die Abb.2  zeigt einen jungen Pflanzenkeimling mit Sproßachse, Kotyledonen und Wurzel. 
 
 
In dem Gedicht gibt Goethe die gesamte Keimungsphase als einen geheimnisvollen und gesetzhaften Vorgang wieder; die Worte  
„der Erde / Stille befruchtender Schoß"
„Reize des Lichts, des heiligen, ewig bewegten"   und  
„Einfach schlief in dem Samen die Kraft..." 
lassen dies spürbar werden.  

Es ist die dichterische Gestaltungskraft der Elegie, die dieses Gedicht von einem sachlich-wissenschaftlichen Bericht abhebt. Günther Müller spricht hier von einem „bezwingenden Beispiel der bildenden Gewalt dieses Gedichts" .  
Die Verse 23 bis 32 entsprechen inhaltlich dem Kapitel II ;  „Ausbildung der Stengelblätter von Knoten zu Knoten" .  
In diesem Abschnitt wird die „Vertikaltendenz" die dem Längenwachstum der Pflanze entspricht und mit der Keimung beginnt,  fortgesetzt und zum Abschluß gebracht.  
Zum erstenmal wird hier deutlich,  was Goethe meint,  wenn er von einer „Metamorphose" bei den Pflanzen spricht.  
Die ersten Blätter,  die eine Pflanze hervorbringt,  sind noch wenig ausdifferenziert. Während ihres Wachstums bringt die Pflanze an den Knoten ständig neue Blätter hervor,  wobei sich die späteren stark von den früher gewachsenen unter-scheiden. Dies ist an der Größe und Dicke des Blattes ebenso erkenmbar, wie an der Form der Blattspreite und an den Blatträndern. 
 

 
Die Abb.3  zeigt schematisch die Blattentwicklung am Beispiel einer dikotylen Pflanze. 
 

In diesem Abschnitt erweckt Goethe das „Erstaunen" darüber, wie „frei und unendlich" die Möglichkeiten der Pflanzen bei der Ausbildung von Laubblättern sind .  

„Zwar nicht immer das gleiche;denn mannigfaltig erzeugt sich,  
Ausgebildet,du siehst’s, immer das folgende Blatt,  
Ausgedehnter,gekerbter, getrennter in Spitzen und  Teile,   
Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ." 

Die Verse 33 - 38 stimmen thematisch mit dem Kapitel III  der Abhandlung überein. Das Längenwachstum und damit die Vertikaltendenz sind beendet. Die Pflanze geht zur Blüten-bildung über. Beim Übergang von der vegetativen zur repro-duzierenden Phase unterscheidet Goethe zwei Abschnitte:  die Bildung des Kelches und die Bildung des Krone .  
Auf die Bildung des Kelches geht er in den Versen 39 - 43 ein,  dem entspricht das Kapitel IV der Abhandlung .  
 
Im V. Kapitel beschreibt Goethe die Entstehung der Blütenkrone; dem ist in der Elegie nur ein Pentameter,  nämlich der Vers 44,  gewidmet,   während sich der dazugehörende Hexameter noch auf den Kelch bezieht. Durch diesen unmittel-baren Übergang innerhalb eines Distichons kommt die enge Verknüpfung von Kelch- und Blütenbildung zum Ausdruck. Während außen der „bergende Kelch" entsteht, wird in seinem Innern bereits die Knospe mit allen Anlagen zur Blütenbildung, ausgebildet.  
In der Ausbildung der Blüte sieht Goethe das höchste er-reichbare Ziel der Pflanze. Er beschreibt die Blüte als das  „Vollkommenere"  und als „ein Wundergebild". Gleichzeitig stellt die Bildung von Kelch-, Blüten-, Staub- und Fruchtblättern den Höhepunkt der pflanzlichen Metamorphose dar. In den Versen 45 - 62 kommt an Stelle der sehr detailreichen Einzelbeobachtungen (wie sie in der Abhandlung wiedergegeben werden)  der geheimnisvolle Vorgang der Befruchtung als ein ebenso rätselhaftes wie heiliges und beseligendes Phänomen zur Wirkung.  
Es wird hier symbolisch eine Beziehung zur menschlichen Hochzeitszeremonie geschaffen, in dem von „holden Paaren" die Rede ist, die „traulich" um den „geweihten Altar" beisammen stehen.  
Staub und Fruchtblätter stellen so die „holden Paare" dar, während der Stempel als „geweihter Altar" besonders hervorgehoben wird. In ihm wachsen und reifen die neuen Früchte,  aus denen in gleicher Weise neue Pflanzen hervorgehen. Der Ring, der sich im ganzen Mittelteil mit seinem Wachstum aus-gebildet hat, schließt sich nun.  

Der Schlußteil besteht aus neun Distichen und ähnelt dem Anfang,  indem hier wieder der Blick der Geliebten ausdrücklich auf das bunte Gewimmel gelenkt wird.  
Im Unterschied zum ersten Teil ist jetzt das „lösende Wort" überliefert und das „geheime Gesetz" sichtbar geworden; die organische Verbundenheit mit dem ersten und mittleren Teil ist somit hergestellt.  

 „Wende nun, o Geliebte, den Blick zum bunten Gewimmel, 
  Das verwirrend nicht mehr sich vor dem Geiste bewegt.  
 Jede Pflanze verkündet dir nun die ew'gen Gesetze,  
 Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir." 

Das Wort „verkünden" läßt noch einmal deutlich werden, daß die sprachliche Wirklichkeit hier dichterisch ist,  nicht wissenschaftlich abhandelnd.  
In den folgenden Distichen wird nun klar, daß die Enthüllung des Lebensgesetzes der Pflanzen  
in    s y m b o l i s c h e r  Weise zugleich ein Gesetz des ganzen Lebens offenbart;  
denn die Tiere und sogar der Mensch ist diesem Gesetz unterworfen ( Vers 69 und 70 ) .  
Vom Reich der Pflanzen gleitet der Blick hinüber zu dem der Tiere. Wieder individualisierend wird die Metamorphose des Schmetterlings ins Auge gefaßt, die vom Ei über das Stadium der „kriechend zaudernden Raupe" und der unbeweglichen Puppe zum „geschäftzg eilenden Falter"  führt.  
Auch hier läßt der Dichter die Wirksamkeit der gleichen Naturgesetze erkennen.  
Die letzten fünf Distiehen enthalten die höchste Steigerung. Das Gesetz von der allgegenwärtigen Metamorphose wird auch auf den Menschen übertragen. Auch seine Lebensformen sind den Regeln der steigernden Verwandlung unterworfen. Hier nämlich wächst die Liebe in ihren Metamorphosen zu ihrer höchsten Entwicklung empor: zum Einklang der Gesinnungen .  
 

 



  
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