Der Aufbau der typischen Fabel
 
In ihrer strengen Form besitzt die Fabel einen dreigliedrigen Aufbau (11), der von der Antike bis zur Moderne im Prinzip beibehalten wird: 

1.   Ausgangssituation


2.   Konfliktsituation

2.1  Aktion         oder       Rede

2.2  Reaktion     oder      Gegenrede


3.   Lösung
 

Dieses einfach überschaubare und rhetorisch geschickte Bauschema muss in engem Zusammenhang mit der didaktischen Absicht der Fabel gesehen werden. 
Dem Hörer oder Leser wird zunächst in der Ausgangssituation die zum Fabelverständnis notwendige Information gegeben.  Die Ausgangssituation stellt die Handelnden kurz vor und lenkt auf die spezielle Konfliktlage hin.  Eine weitergehende Beschreibung findet sich nur, wenn diese zum unmittelbaren Verständnis unbedingt erforderlich ist. 

Die Konfliktsituation ergibt sich in der Regel aus der Antithetik, die durch die Gegenüberstellung zweier konträrer Verhaltensweisen hervorgerufen wird. Die Handlung, 
in der der Konflikt verwirklicht wird, ist dabei so gestaltet, dass eine Verhaltensweise als 
die unterlegene erkennbar wird. 
In Rede und Gegenrede,  Handlung und Gegenhandlung  läuft ein dramatisches Geschehen ab, das sich auf einen Höhepunkt zuspitzt und in einem überraschenden Moment, einer Pointe, gipfelt. 

Am Ende der Fabel (Lösung) wird das Ergebnis berichtet. Die Absicht des Dichters ergibt aus der Deutung des Fabelgleichnisses.  In wenigen Fällen wird der Fabel als viertes Glied ein  (meist später hinzugefügter)  Lehrsatz, das Epimythion,  hinzugefügt, das dann typografisch oder anders von der eigentlichen Erzählung getrennt wird. 
 

Hier wird nun das Aufbauprinzip am Beispiel der Fabel von Rabe und Fuchs in der Version
von Martin Luther erläutert: 

Vom Raben und Fuchs 

Ein Rab' hatte einen Käse gestohlen und setzte sich auf einen hohen Baum und wollte zehren. 

Da er aber seiner Art nach nicht schweigen kann, wenn er isst, hörte ihn ein Fuchs über dem Käse kecken und lief zu und sprach: "O Rab', nun hab' ich mein Lebtag keinen schöneren Vogel gesehen von Federn und Gestalt, denn du bist. Und wenn du auch so eine schöne Stimme hättest zu singen, so sollt' man dich zum König krönen über alle Vögel." 

Den Raben kitzelte solch Lob und Schmeicheln, fing an und wollt' seinen schönen Gesang hören lassen. Und als er den Schnabel auftat, entfiel ihm der Käse; den nahm der Fuchs behänd, fraß ihn und lachte des törichten Raben. 
 
 

Situation:      Der Rabe sitzt mit seinem Stück Käse auf einem hohen Baum. 
                      Der Fuchs naht voll Gier nach dem Käse. 
                      Mit Gewalt lässt sich nichts erreichen. 

Aktion:          Der Fuchs versucht es mit List. 
                      Der Rabe hat im Gegensatz zu den bunten Singvögeln ein schwarzes und nicht 
                      glänzendes Gefieder. 
                      Im Gegensatz zum Adler, dem König der Vögel, hat er einen unscheinbaren 
                      Kopf. 
                      Wenn einer heiser ist und nicht singen kann, sagen wir: Er krächzt wir ein
                      Rabe.   
                      Der Fuchs sagt das Gegenteil. Er belügt den Raben; er schmeichelt ihm aus 
                      Gewinnsucht. 

Reaktion:     Der eitle Rabe will sich zeigen und seine Stimme erklingen lassen. 
                      Er ist töricht. 
                      Durch die Schmeichelei des Fuchses betört, denkt er nicht daran, dass er den 
                      Käse verliert, 
                      wenn er den Schnabel öffnet. 

Ergebnis:      Der Fuchs hat sein Ziel mit List erreicht und frisst den Käse auf. 
                      Erst jetzt merkt der Rabe, dass er betrogen wurde und für seine Eitelkeit 
                      bezahlen muss.
 

Das aufgezeigte Grundschema ist variabel. Die Konfliktsituation kann aus einmaliger Rede und Gegenrede bestehen, sie kann auch durch doppelten oder mehrfachen Wechsel ausgedehnt sein. 
Andererseits kann eine Fabel so reduziert sein, dass die Lösung des Konflikts bereits in actio und reactio zum Ausdruck kommt. 

Beispiel: 

H. Arntzen
Wolf und Lamm

Der Wolf kam zum Bach.  Da entsprang das Lamm.
"Bleib nur, du störst mich nicht!"  rief der Wolf.
"Danke",  rief das Lamm zurück,  "ich habe im Aesop gelesen."

Hier wird deutlich, dass actio und reactio, bzw. Rede und Gegenrede  den Kern der Fabel bilden und das eigentlich bestimmende Moment der Fabel darstellen. 
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(11)  Siehe auch:    E. Leibfried,  a.a.O.,  S. 30 
 



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